Seit Mitte September diskutieren Politiker:innen und Aerzt:innen in Deutschland über die Einführung zentraler Melderegister von Fehlbildungen bei Neugeborenen[1]. Anlass war die Geburt von drei Babys mit Fehlbildungen an den Händen in einem Gelsenkirchener Krankenhaus zwischen Juni und September dieses Jahres[2]. Mediziner:innen und viele Eltern betroffener Kinder beschäftigt die Frage nach den Ursachen von Fehlbildungen[3]. Die Einführung von Melderegistern würde, so die Hoffnung, Forschung und Aufklärung ermöglichen.

Wir als Verein von Betroffenen – Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen – und ihren Eltern haben die bisherige Debatte aufmerksam verfolgt und uns gefragt: Brauchen und wollen wir ein Melderegister über Hand- und Armfehlbildungen? Bei ahoi e.V. sind über 270 Familien organisiert. Der Verein lebt von seiner Vielzahl an Perspektiven. Wir wollen und können daher keine einheitliche Meinung zur Einführung von Melderegistern vertreten, sondern einige Argumente darstellen, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven von Eltern und Betroffenen ergeben und uns für die Debatte wichtig erscheinen.

Aktuell existiert kein zentrales und verpflichtendes Melderegister in Deutschland. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums geben zurzeit zwei Statistiken Aufschluss über Fehlbildungen, die vor, während oder kurz nach der Geburt auftreten: zum einen die bundesweite Perinatalstatistik, die allerdings nicht zwischen der Art der Fehlbildung differenziert und daher keine Informationen über spezifische Häufungen von Diagnosen enthält, zum anderen die Krankenhausdiagnose-Statistiken, die zwar die spezifischen Diagnosen beinhalten, faktisch jedoch lediglich die Summe stationärer Behandlungen aufgrund angeborener Fehlbildungen erheben. Aus dieser Statistik lassen sich deshalb keine Aussagen zur Anzahl der Betroffenen ableiten. Einzig Sachsen-Anhalt führt in Deutschland ein Fehlbildungsmonitoring durch, das Daten anonymisiert sammelt und auswertet.

Ein Wunsch nach Aufklärung, das ist unsere Erfahrung, besteht vor allem aus Eltern-Perspektive. Einige Eltern erleben die Geburt ihres Kindes mit einer Fehlbildung zunächst als Schock, vor allem wenn die Fehlbildung bei den vorgeburtlichen Untersuchungen nicht entdeckt wurde. Andere Eltern erfahren schon während der Schwangerschaft von der Fehlbildung, was ihnen nicht nur Zeit gibt, sich auf das Kind einzustellen, sondern auch, sich vor Sorgen verrückt zu machen. Vor diesem Hintergrund verspricht die Einführung eines Melderegisters Entlastung. Zum einen könnten Eltern so feststellen, dass sie nicht „die Einzigen“ sind und könnten sich – sofern ein solches Register weder anonym noch geheim wär – besser vernetzen. Zum anderen könnte eine Ursachenforschung auf der Grundlage von Melderegistern bei der Frage weiterhelfen, ob man als Eltern etwas falsch gemacht hat. Bisher kann niemand diese Frage abschließend beantworten.

Anders stellt sich die Situation für Betroffene dar. Den Schock und die Sorge der Eltern kennen sie nicht. Ein Kind mit Hand- oder Armfehlbildungen probiert Neues so lange, bis es klappt, und nutzt dazu alle Möglichkeiten, die der eigene Körper ihm bietet genau wie andere Kinder auch. Was es braucht, sind Eltern, die hinter ihm stehen und ihm Mut machen. Wenn diesen dafür mehr Klarheit über die Ursache der Fehlbildung hilft, dann profitiert davon auch das Kind.

Erst später, wenn Kinder beginnen sich mit anderen zu vergleichen, und spätestens in der Pubertät fragen Betroffene sich vielleicht: Warum ich? Diese Frage ist nicht so sehr wissenschaftlich motiviert, sondern eher Ausdruck der Auseinandersetzung mit sich selbst, des Ringens darum, den eigenen Körpers anzunehmen, wie er ist. Vor dieser Aufgabe stehen alle Menschen und manchen fällt sie leichter als anderen. Ob die Feststellung einer eindeutigen Ursache für die Fehlbildung hier hilfreich wäre, ist fraglich.

Auch aus anderen Gründen stehen viele Betroffenen der aktuellen Debatte über Melderegister von Fehlbildungen eher distanziert gegenüber. Wenn beispielsweise Prof. Dr. Stephan von der Universitätsklinik Leipzig eine verpflichtende Meldungsstruktur fordert[4], dann sind sie ganz konkret damit gemeint. Sie empfinden es als Eingriff in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zudem ruft die Forderung nach einem Melderegister das Gefühl hervor, auf eine körperliche Abweichung reduziert zu werden. Freiwillig eine:n Aerzt:in aufzusuchen ist eben nicht das gleiche wie Teil eines verpflichtenden Melderegisters zu sein. Das Unbehagen hat außerdem eine historische Referenz: Auch vor dem Hintergrund der Verbrechen der Nationalsozialisten an Menschen mit Behinderungen möchten sie nicht wegen körperlicher Abweichungen gezählt, gespeichert und möglichen staatlichen Zugriffen ausgesetzt werden. Es hat gute Gründe, dass es in Deutschland seit 1945 keine Register über Menschen mit Behinderungen mehr gibt.

Zwar ist auch die Rede davon, dass eine Registrierung freiwillig und anonym erfolgen könnte. Doch stellt sich dann die Frage, wie sinnvoll das eine und wie wahrscheinlich das andere ist. Wenn es aus wissenschaftlicher Perspektive um Ursachenforschung geht, dann braucht man ein vollständiges Register für die Feststellung von Häufungen und Zusammenhängen. Und die Zusicherung von Anonymität erscheint, wenn man zugleich wissenschaftlich relevante Daten erheben will und angesichts der steigenden Möglichkeiten, digitalisierte Daten miteinander zu vernetzen, zumindest problematisch.

Sicherlich, das Fehlen absoluter Gewissheit darüber, warum manche Kinder mit Arm- und Handfehlbildungen geboren werden, kann herausfordernd sein. Auch in den Reihen von ahoi e.V. haben viele ein Bedürfnis nach Aufklärung. Vor allem aber ist uns wichtig zu betonen: Fehlbildungen an Armen oder Händen sind keine Seltenheit. Schätzungen zufolge leben 90.000 Menschen in Deutschland damit, und sie leben genauso gut oder schlecht wie andere Menschen auch.

Den Wunsch betroffener Eltern und Kinder nach Gemeinschaft, Austausch und Orientierung teilen wir. Genau dafür steht ahoi e.V. Werde jetzt Mitglied!


[1] Bspw. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019-09/fehlbildungen-saeuglinge-deformation-haende-krankenhaus-geburt-gelsenkirchen (01.10.2019), https://www.br.de/nachrichten/wissen/haeufung-von-handfehlbildungen-bei-neugeborenen-ursache-unklar,RcEbYsK (01.10.2019)

[2] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/gelsenkirchen-drei-saeuglinge-mit-handfehlbildungen-geboren-16382810.html (01.10.2019)

[3] Zur Ursachenforschung und Systematisierung von Hand- und Armfehlbildungen siehe folgende Beiträge auf unserer Website: https://www.ahoi-ev.org/aetiologie-ursachenlehre/, https://www.ahoi-ev.org/infodatei-fehlbildung/

[4] https://www.mdr.de/nachrichten/panorama/fehlbildungen-neugeborene-melderegister-100.html (01.10.2019)


Download: Über das Für und Wider von Melderegistern zu Fehlbildungen – eine Stellungnahme von ahoi e.V. (PDF)